Seminar – Lewis Carroll
„Tagebuch einer Reise
nach Russland im Jahre 1867“

„Wenn ich an Russland denke, dann denke ich an das, was ich bei Turgenjew gelesen habe.“
Herbert Wells

Ein Stück Kulturgeschichte – Russland der 1860 Jahre

Nur einmal hat „weltfremden Stubenhockers“ Lewis Carroll Britannien verlassen, und dann ging es gleich im Sommer 1867  nach Russland – nach Petersburg, Moskau und Nishnij Nowgorod. Denn Russland hat eine Faszination auf den Dichter und Denker aus Britannien ausgeübt.

Lewis Carroll war dem protestantischen Theologen Henry Liddon in Russland unterwegs, um Verbindungen zur Russisch-Orthodoxen Kirche zu knüpfen. Gemeinsam überbrachten sie Briefe von Bischof Wilberforce aus Oxford an den Metropoliten von Moskau und Kolomna Philaret.

Die detailliert beschriebenen Rituale der Gottesdienste bleiben für ihn „hoffnungslos unverständlich“ und die Zeremonie einer orthodoxen Hochzeit mit der Krönung des Brautpaares verwandelt sich in absurdes „Kasperletheater“.

4 Monate – von Juni bis September reiste Lewis Carroll durch Russland – kurz danach begann er am Manuskript „Alice hinter den Spiegeln“ zu arbeiten, einer Fortsetzung der erfolgreichen „Alice im Wunderland“.

„Alice im Wunderland“ und „Alice hinter den Spiegeln“

Die Auslandsreise nach Russland war für den frommen Schriftsteller, Philosoph, Fotograf und Mathematik-Tutors aus Oxford eine Fahrt in eine unbekannte und fremdartige Welt mit eigenen Gesetzen. Lewis Carroll erlebt Russland über weite Strecken des Textes wie Alice ihr Wunderland.

Die Größenverhältnisse in Russland erscheinen ihm verzerrt und er versetzt sich in Alices Wachsen und Schrumpfen: Carroll wundert sich über „die übertriebene Kleinheit der Feuerspritzen“ der Feuerwehr von Petersburg – „Es ist, als ob man in einer Stadt für Riesen umherginge“.

Das russische Essen probiert er mit großer Neugier. Er geht sehr gerne in Restaurants und ins Theater und schreibt über gelungene und weniger gelungene Theateraufführungen und erzählt über das, was man in Russland in Restaurants isst.

Von einem russischen Bauern wird er nach Hause eingeladen – es sei „interessant, mit eigenen Augen die Behausung eines russischen Bauern zu sehen“.

Sprachspieler und Kunstwort-Erfinder

Während der Reise in Russland ist Lewis Carroll um so mehr vom exotischen Klang sowie vom fremdartigen Bild der Schriftzeichen der russischen Sprache begeistert .

Gleichzeitig war er eingeschüchtert, dass die russische Sprache sehr kompliziert ist und viele lange Wörter hat:

ein Wort wie „защищающиеся“ zeichnet er sowohl in Kyrilliza, als auch in einer verrückten Umschrift ins Lateinische auf „zaschtschischtschajuschtschijesja“.

„Dieses beängstigende Wort ist der Genetiv Plural eines Partizips und bedeutet „Personen, die sich verteidigen.“

Mit dem Wörterbuch und mit einem Sprachführer begann er die russische Sprache nach und nach zu lernen – zunächst schrieb er unbekannte Wörter auf und dann lernte er ganze Sätze und war dabei recht erfolgreich.

Russland war immer ein Magnet für Schriftsteller und Journalisten

Im „Tagebuch einer Reise nach Russland im Jahre 1867“ findet man präzise und originelle Einzelbeobachtungen zu den bekanntesten Sehenswürdigkeiten Russlands:

  • die in der endlosen russischen Landschaft verstreuten Kirchen, die wie „Ständer für Essig und Öl“ anzusehen sind;
  • das Stadtbild von Moskau mit seinen „konischen Türmen, die einer aus dem anderen emporsteigen wie ein verkürztes Teleskop“ und bunten Kuppeln der Basilius Kathedrale, die mit „stachligen Knospen besetzten Kakteen“ gleich sind;
  • der Park von Schloss Peterhof, der von „Bändern scharlachroter Geranien“ wie von einem „riesigen Korallenzweig“ durchzogen ist;
  • die Schatzkammer im Kreml, die den Eindruck erweckt, als seien Perlen und Brillanten „weiter verbreitet als Brombeeren“;
  • vielen orthodoxen Kirchen und Klöstern, Synagogen und die „Tatarenmoschee“ in Nishnij Nowgorod